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«Man muss kein Gandhi sein»

Interview mit Bettina Ugolini von der Beratungsstelle Leben im Alter

Das psychische Wohlbefinden und soziale Kontakte sind genauso wichtig wie körperliche Unversehrtheit, sagt Bettina Ugolini von der Beratungsstelle Leben im Alter.

Mit dem Älterwerden nimmt die Zufriedenheit der Menschen nicht ab, sondern im Gegenteil sogar zu. Dies zeigt das neuste Bulletin des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan). So gibt es nicht etwa bei den Jüngeren, sondern in der Altersgruppe ab 65 am meisten Menschen, die eine hohe Energie und Vitalität aufweisen. Dennoch sind psychische Erkrankungen verbreitet. Bei älteren Menschen erhöhen schwerere Krankheiten und der Verlust von Angehörigen das Risiko für psychische Beschwerden. Es gibt aber wichtige Ressourcen, auf die man in Krisen zurückgreifen kann.

Freuen Sie sich darauf, älter zu werden, Frau Ugolini?
Bettina Ugolini: Ich freue mich. Das Älterwerden bedeutet ja immerhin mehr Lebensjahre – hoffentlich mit guter Lebensqualität. Nicht älter zu werden würde ja heissen, früh zu sterben.

Blicken Sie auch positiv auf die Pensionierung und den Eintritt in Ihre dritte Lebensphase?
Ja, schon. Durch den Ruhestand ergeben sich neue Möglichkeiten, das Leben zu gestalten. Zudem führt es zu einem Ausstieg aus einem engen Rhythmus und Korsett.

Lange war das Alter mit Krankheitsbildern verbunden wie mit Demenz und körperlicher Schwäche …
Bei meiner Arbeit an der Uni Zürich beschäftige ich mich mit der Frage, wie man im Alter trotz chronischer Erkrankungen wie Diabetes oder Parkinson ein erfülltes Leben führen kann. Menschen, die dies schaffen, begegne ich jeden Tag in meiner Praxis. Es geht um die Frage, was alte Menschen brauchen, um dennoch zufrieden zu sein. Und viele sind dies in hohem Masse: Ältere Menschen gehören zu den zufriedensten Gruppen der Gesellschaft.

Wie steht es mit psychischen Krankheiten im Alter?
Das Bild ist sehr divers. Psychische Krankheiten bei älteren Menschen zeigen sich oft anders und werden nicht erkannt. Depressionen zum Beispiel äussern sich bei ihnen häufig versteckt. Im mittleren Alter klagen Menschen mit solchen Erkrankungen, sie hätten keine Lust mehr am Leben und keine Energie. Ältere Personen dagegen weisen eher körperliche Symptome auf. Zum Beispiel schlafen sie schlecht oder haben ständig Kopfweh. Wenn der Hausarzt kein guter Altersmediziner ist, kommt er möglicherweise nicht
sofort darauf, dass hinter diesen Symptomen auch eine Depression stecken könnte. Menschen im vorgerückten Lebensalter sind in diesem Fall eher untertherapiert. Dabei wird ausser Acht gelassen, dass man dieses Leiden mit Medikamenten und Psychotherapie behandeln könnte.

Wie lässt sich die seelische Widerstandskraft stärken?
Ganz wichtig ist das soziale Netz. Wir brauchen Austausch und soziale Kontakte. Dazu gehört, dass man auf seine Mobilität achtet und raus und in Gesellschaft gehen kann. Zudem sollte man gewahr werden, dass man sehr viele Ressourcen hat. Wenn die Krankheiten zunehmen und die Kräfte schwinden, wird oft vergessen, dass man mit 70 oder 80 Jahren im Leben sehr viel gelernt hat. Verluste, Abschied, Wohnsituation verändert – das hat man schon x-mal erlebt. Man verfügt also über ein Rüstzeug, um mit den Widrigkeiten im Alter umzugehen.

Sie gaben Kurse zum Thema «Weisheit und erfolgreich Altern». Inwiefern kann «Weisheit» helfen, die dritte Lebensphase positiv wahrzunehmen?
Es ging in diesen Kursen generell darum, Weisheit als Reife und Erfahrungswissen aufzufassen und sich nicht nur auf Probleme zu fokussieren. Man sollte sich als Teil eines grossen Ganzen verstehen und das Positive im Leben nicht aus den Augen verlieren. Das Negative gibt es, klar, aber man sollte es nicht überhandnehmen lassen. Das ist der Kern von Resilienz. Dies kann nicht nur Mahatma Gandhi oder sonst ein als weise bezeichneter Mensch umsetzen, das können auch ganz normale Bürgerinnen und Bürger!

Wird diese Lebenserfahrung und Altersweisheit heute gesellschaftlich unterschätzt?
Das ist so, alte Menschen werden unterschätzt: das, was sie im Rucksack mitführen, und welche Kompetenzen sie sich angeeignet haben. Und sie unterschätzen sich auch selbst.

Sie sagten, Einsamkeit im Alter sei ein Risikofaktor. Sind ältere Menschen heute einsamer als ältere Leute vor 30 Jahren?
Diese Frage kann ich nicht beantworten. Ich möchte aber hervorheben: Nicht nur alte Menschen sind einsam – das gibt es in allen Altersgruppen. Die einsamste Gruppe unserer Gesellschaft sind sogar die Jungen. Selbstverständlich gibt es diese beklemmende Erfahrung auch im Alter, weil sich das soziale Netz im Laufe des Lebens reduziert. Umso wichtiger ist es, dieses Netz zu pflegen.

Fällt es jüngeren Menschen einfacher, neue Kontakte zu knüpfen – etwa in der Schule und während ihrer Ausbildung –, als dies Pensionierten möglich ist?
Studien zu den Folgen der Coronakrise haben ergeben, dass Junge oft in ihrer digitalen Blase isoliert sind und fast keinen Ausweg daraus finden. Für Pensionierte fallen die beruflichen Kontakte weg, oder sagen wir die «automatischen» Kontakte wie zum Beispiel das gemeinsame Essen am Arbeitsplatz. Deshalb müssen sie sich einen Ruck geben und neue Kontakte knüpfen. In der dritten Lebensphase gibt es dafür in Kursen, Vorträgen und Gruppen für verschiedenste Freizeitaktivitäten sehr viele Gelegenheiten. Schwieriger wird es, wenn man nicht mehr mobil ist.

Unter welchen psychischen Erkrankungen leiden die Menschen am meisten, die zu Ihnen kommen?
Depressionen. Man muss aber bedenken, dass wir keine Psychotherapie-Praxis sind, sondern eine psychologische Beratungsstelle. Zudem kommen die Menschen nicht zu mir und sagen, sie hätten eine Depression. Sondern sie sagen, es gehe ihnen schlechter, sie seien mutlos. Dann geht es darum abzuklären, ob sich dahinter eine Depression versteckt und ob wir dem miteinander mit Gesprächen Herr werden. Oder ob es eine psychiatrisch-medizinische Begleitung braucht. Daneben sind auch Angst und posttraumatische Belastungsstörungen zum Beispiel nach einem Todesfall von Angehörigen ein Thema.

Fokussiert die öffentliche Diskussion eher auf die physische Gesundheit und körperliche Fitness im Alter? Und wird die mentale Gesundheit älterer Menschen Ihrer Meinung nach unterschätzt?
Ja, das finde ich. Es wird überall propagiert, dass man gut altert, wenn man sich gut ernährt, körperlich
fit ist und sein Gedächtnis trainiert. Soziale Faktoren wie Eingebundenheit und Zugehörigkeit
sind aber ebenfalls sehr wichtig – vielleicht sogar noch entscheidender. Dies wird unterschätzt.

Sie versuchen dies zu korrigieren?
Wir möchten das Bild vom Altern grundsätzlich verändern. Es geht darum, dass Alter nicht nur Abbau bedeutet und dass alles schwer und schlechter wird. Gleichzeitig versuchen wir aufzuzeigen, dass man das Alter nicht medizinisch wegtherapieren kann. Wir können nicht lange leben und gleichzeitig jung bleiben. Es geht eher darum, lange zu leben und gut alt zu werden.

Dieser Artikel ist in unserem Magazin VISIT erschienen.

Bettina Ugolini (63) leitet die Psychologische Beratungsstelle Leben im Alter am Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich. Zudem ist sie am Healthy Longevity Center tätig, dem Zentrum für gesunde Langlebigkeit. Sie war zunächst Krankenpflegerin, studierte später Psychologie und doktorierte. zfg.uzh.ch.

Falls Sie selber mit psychischen Problemen kämpfen oder einem betroffenen Mitmenschen helfen möchten: Hier finden Sie vertrauenswürdige Beratung und nützliche Informationen.

Dargebotene Hand

Telefon 143 ist eine erste Anlaufstelle für Menschen in Krisensituationen oder schwierigen Lebenslagen.
Der Beratungsdienst ist rund um die Uhr und anonym erreichbar, telefonisch und online.
Telefon: 143
143.ch

Pro Mente Sana

Die unabhängige Stiftung setzt sich für die psychische Gesundheit in der Schweiz ein. Sie betreibt auch einen kostenlosen Beratungsdienst für Betroffene und Angehörige.
Telefon: 0848 800 858
promentesana.ch

Pro Senectute

Pro Senectute Schweiz informiert auf ihrer Website über Formen und Auswirkungen psychischer Erkrankungen und gibt eine Reihe von praktischen Tipps, wie man die mentale Gesundheit im Alter fördern kann.
prosenectute.ch
Pro Senectute Kanton Zürich bietet immer wieder Kurse zur Stärkung des Wohlbefindens und der Lebensfreude an.
pszh.ch/begegnung

Schweizerisches Rotes Kreuz

Auch das SRK setzt sich für psychische Gesundheit ein. Es hat unter anderem Kurse zu psychischen Erkrankungen im Angebot – für Jung und Alt.
redcross.ch