«Freiwilligenarbeit fördert geistige und körperliche Vitalität»
Gespräch mit Sigrid Haunberger
Wie wichtig ist Freiwilligenarbeit in einer alternden Gesellschaft? Und wie verändert sie sich? Sigrid Haunberger forscht zur Freiwilligenarbeit im Alter. Sie plädiert für Offenheit gegenüber neuen Formen der freiwilligen Tätigkeit.
Interview: Vanessa Simili
Frau Haunberger, Sie forschen und lehren zur Freiwilligenarbeit. Woran arbeiten Sie zurzeit?
Gerade haben wir ein Forschungsprojekt beim Schweizerischen Nationalfonds eingereicht. Wir wollen die Rolle der Freiwilligenarbeit, genauer: der formellen Freiwilligenarbeit in einer alternden Gesellschaft untersuchen – mit dem Ziel, Empfehlungen für die zukünftige Ausgestaltung der Freiwilligenarbeit aussprechen zu können. Diese Frage wollen wir basierend auf dem gerontologischen Konzept des aktiven Alterns angehen.
Welchen Einfluss hat Freiwilligenarbeit auf das Älterwerden?
Studien weisen nach, dass sich Freiwilligenarbeit in der nachberuflichen Phase positiv auswirkt. Man ist sich einig, dass Freiwilligenarbeit zu einer aktiven Lebensgestaltung von Personen im Ruhestand anregt. Zudem trägt sie zum Erhalt und zur Förderung geistiger und körperlicher Vitalität bei.
Was verstehen wir denn eigentlich unter Freiwilligenarbeit?
Ich orientiere mich für die Definition an Benevol Schweiz. Als Dachorganisation der regionalen Fachstellen für freiwilliges Engagement definiert sie Freiwilligenarbeit als Tätigkeit, die man freiwillig, also ohne Zwang und ausserhalb der eigenen Familie verrichtet. Zudem hat sie einen gesellschaftlichen respektive individuellen Nutzen und ist unbezahlt.
Die freiwilligen Engagements mit einem kleinen Entgelt sind also streng genommen keine Freiwilligenarbeit?
In der Forschung wird die Entlöhnung freiwilliger Engagements kontrovers diskutiert. Das ist eine Zwischenform von Erwerbsarbeit und klassischer Freiwilligenarbeit. Gerade vor dem Hintergrund der alternden Gesellschaft stellt sich berechtigterweise die Frage, ob es zukünftig nicht vermehrt Zwischenformen braucht und zu welchen Bedingungen.
Warum?
Ich beobachte, dass viele Aufgaben, die für Freiwillige gedacht sind, ein freiwilliges Engagement übersteigen. Sie sind nicht nur sehr anspruchsvoll, sondern auch zeitintensiv. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wer sich ein freiwilliges Engagement leisten kann. Mit einer Zwischenform liesse sich das Engagement nach der Pensionierung bewerkstelligen.
«Es stellt sich die Frage, ob es nicht vermehrt Zwischenformen braucht.»
Ein freiwilliges Engagement muss man sich also auch leisten können?
Tatsächlich könnte man auch von einem Privileg sprechen. Freiwilligenarbeit ist sozial ungleich verteilt. Es ist eine Frage der zeitlichen Ressourcen, der gesundheitlichen Verfassung, der Bildung und ja, auch der Finanzen.
Die Zwischenform könnte eine Antwort darauf sein.
Durchaus, denn es gibt nicht wenige Personen in der nachberuflichen Zeit, denen die Pension nicht ausreicht. Sie hätten jedoch Zeit und könnten – bei guten gesundheitlichen Ressourcen – einen wertvollen Beitrag zur sozialen Integration leisten. Wenn eine Zwischenform entwickelt würde, die einen Teil zum Lebensunterhalt beiträgt und sich zugleich klar von der klassischen Freiwilligenarbeit abgrenzt, könnte dies ein durchaus interessantes Modell darstellen.
Welche Massnahmen bräuchte es dafür?
Dass rechtlich-praktische Aspekte berücksichtigt werden müssen, ist klar. Vor allem aber gälte es für die Organisationen zu überlegen: Welche Angebote formeller Engagements wollen wir für die alternde Bevölkerung bereitstellen und zu welchen Konditionen soll dies geschehen? Wichtig wäre, dass diese «bezahlte Freiwilligenarbeit» die Erwerbsarbeit nicht konkurrenziert. Sicherlich gehen damit auch ethische Fragen einher. Welche Signalwirkung ist damit verbunden, wenn bisher unbezahlte freiwillige Tätigkeiten plötzlich entlöhnt werden? Und welchen Namen würde dieses Amt tragen?
Welche Formen von Freiwilligenarbeit gibt es denn eigentlich?
Wenn wir Spenden mal aussen vor lassen, dann unterscheiden wir zwischen formellen und informellen Engagements. Hilft man ohne institutionellen Auftrag einer Nachbarin, so sprechen wir von informellem Engagement. Vor allem Frauen bieten auf diese Weise Unterstützung. Formell hingegen ist es dann, wenn man sich im Auftrag einer Organisation freiwillig engagiert.
«Krisen haben gezeigt, dass das Potenzial, sich zu engagieren, enorm ist, aber schnell wieder versanden kann.»
Man hört manchmal, bloss wenige Menschen seien noch bereit, sich freiwillig zu engagieren. Wie sehen Sie das?
Ein Blick in den aktuellen Freiwilligenmonitor 2025 zeigt, dass sich die Freiwilligenarbeit auf einem stabil hohen Niveau befindet. Eine grosse Mehrheit der Schweizer Bevölkerung engagiert sich innerhalb eines Jahres in irgendeiner Form freiwillig. Andere Quellen belegen, dass Personen über 65 Jahre wöchentlich durchschnittlich über 3 Stunden institutionalisierte und über 6 Stunden informelle Freiwilligenarbeit leisten. Im Vergleich zu Ländern wie Japan, Österreich, Frankreich oder Deutschland ist dies relativ viel. Generell kann man sagen, dass wir uns über das freiwillige Engagement in der Gesellschaft nicht beklagen können.
Gemeinnützige Organisationen sprechen von einem Mangel an Freiwilligen.
Das ist so. Aber deshalb würde ich keine Krise heraufbeschwören. Gerade Krisen haben gezeigt, dass das Potenzial, sich freiwillig zu engagieren, enorm ist, aber schnell wieder versanden kann. In meinen Augen stellt sich eher die Frage, ob der Anspruch an die Freiwilligen zu hoch ist oder ob man sich über andere Formen freiwilliger Engagements Gedanken machen müsste.
Sie forschen auch zum Freiwilligenmanagement. Was ist darunter zu verstehen?
Eine Organisation, die mit Freiwilligen zusammenarbeitet, muss strategische und operative Überlegungen anstellen: Wie sprechen wir Freiwillige an, wie motivieren wir sie? Mit welchen Aufgaben können wir sie betrauen? Wie schulen und begleiten wir sie? Und, wichtig: Wie danken wir ihnen?
Sind Sie persönlich freiwillig tätig?
Ja, ich engagiere mich ehrenamtlich in verschiedenen Bereichen. Bis vor kurzem hatte ich etwa ein Mandat in der Justizvollzugsanstalt in Hindelbank, wo ich eine Frau einige Jahre begleitete.
Was war Ihre Aufgabe?
Ich besuchte sie regelmässig, wir führten Ge spräche. Für mich war es bereichernd und ihr hat es hoffentlich genutzt, den Alltag im Justizvollzug etwas hinter sich zu lassen.
