Ein Platz am Tisch
Eine Weihnachtsgeschichte
Seit Peters Tod im Frühling sind Stille und Schwere zu Verenas ständigen Begleitern geworden. Die Stille breitet sich wie zäher Nebel in ihrer Wohnung aus. Sie sitzt mit ihr am Frühstückstisch und folgt ihr in den Abend.

Manchmal greift Verena automatisch nach einem zweiten Teller, bevor ihr wieder bewusst wird, dass niemand mehr gegenüber sitzt. Sie sehnt sich nach Austausch, nach einem Lächeln, nach einer Unterbrechung der Einsamkeit.
Das Erzählcafé von Pro Senectute Kanton Zürich ist für sie zu einem wichtigen Anker geworden. Für Verena ist es ein Ort, an dem sie zuhören, reden oder einfach nur unter Menschen sein kann. An diesem Dezembernachmittag sitzt Verena erneut im Kreis. Als das Thema Weihnachten angekündigt wird, zieht sich etwas in ihr zusammen. Es wird ihre erste Weihnacht ohne Peter. Sie hört sein Lachen, sieht ihn vor sich, wie er die Kiste mit dem Baumschmuck öffnet, die Lichterkette entwirrt und den Tannenbaum dekoriert. Dieses Jahr droht ein dunkles Nichts.
Die Moderatorin fragt in die Runde: «Was verbindet ihr mit Weihnachten?» Die anderen sprechen über missglückte Geschenke, Familientraditionen, die scheitern oder weiterleben. Verena hört zu, doch mit jedem Satz wird es enger in ihrer Brust. Als sie an der Reihe ist, sagt sie: «Mein Mann ist im Frühjahr gestorben. Dieses Jahr werde ich an Weihnachten zum ersten Mal allein sein.» Es folgt ein Moment der Stille. Keine betretene, sondern eine mitfühlende. Da legt Marianne, die neben ihr sitzt, eine Hand auf ihren Arm. «Verena», sagt sie, «meine Tochter und die Enkelkinder kommen zu uns. Es wird wahrscheinlich laut und chaotisch, aber ich würde mich freuen, wenn du mit uns feierst.» Zum ersten Mal spürt Verena, dass die Leere nicht unverrückbar sein muss.
In den Tagen bis zum Weihnachtsabend ringt sie mit der Einladung. Soll sie wirklich hingehen? Sie möchte niemanden zur Last fallen. Gleichzeitig meldet sich eine andere Stimme in ihr. Ein schlummernder Mut, der leise insistiert und sich nach Gemeinschaft sehnt.
An Weihnachten klopft Verena an Mariannes Tür. Es empfängt sie ein warmes Durcheinander aus Stimmen, ein Duft von Bouillon und das Lachen von Kindern, die zwischen Küche und Wohnzimmer hin- und herrennen. Ein ganz normales Familienchaos. Für Verena ein Gegenmittel zur drückenden Stille. Die Enkel begrüssen sie neugierig. Beim Essen erzählt Marianne von früheren Weihnachtspannen. Vom Braten, der zu lange im Ofen schmorte, bis er zäh wie eine alte Fussohle wurde oder von Flipp, dem Dalmatiner, der heimlich den Christstollen frass. Die Kinder führen ein kleines Theaterstück auf und Verena ertappt sich dabei, wie sie lächelt. Als sie später selbst ein paar Geschichten aus früheren Jahren beisteuert, war es, als würde sie Peter für einen Moment zurück in den Raum holen. Nicht als Schmerz, sondern als warme, helle Erinnerung.
Zu Hause zündet sie eine Kerze an. Für Peter. Für Menschen, die ihre Türen öffnen und für den Mut, einen ersten Schritt aus der Stille gewagt zu haben.

